Magdalena Kröner

ZUR REALITÄT ARCHIVIERTER EREIGNISSE

Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten.
Walter Benjamin (1)

 

Romantik, Geschichte, Display.

In seiner Installation "Rentfort Nord" schaut Markus Draper sich im vielfach aufgeladenen und gleichermaßen profanen Raum eines Verbrechens um und benutzt diesen als Folie für eine komplexe Reflexion von Instabilität und Absenz. Dafür untersucht er den leeren Kern der als "Gladbecker Geiseldrama" beschriebenen Kette von Ereignissen, die sich im August 1988 in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Gladbeck, Bremen und Köln ereigneten.

Mochte man Markus Draper vor einiger Zeit noch mit Recht als Romantiker bezeichnen, so hat er sich mit seinen neueren Skulpturen, Rauminstallationen und Filmen zunehmend von jedem Romantikverdacht entfernt. Früher operierte der Künstler mit den klassischen Topoi des romantischen Raumes: das weite Tal, der hohe Berg, das verwunschene Haus. Jetzt zeigt er: ein Bankgebäude. Eine Bushaltestelle. Eine Raststätte. Eine Fußgängerzone. Eine Autobahn. Markus Draper nutzt so die tatsächlich existierenden Schauplätze zum reinen Zeichen, welches er systematisch entleert und in seiner Zeichenhaftigkeit ausstellt.

Im Kontrast zu der faktischen, politischen und emotionalen Brisanz, die jenen Vorfall kennzeichnet, welches von den Medien als "Gladbecker Geiseldrama" zur Schlagzeile gemacht wurde und den nondeskripten, generischen Orten, an denen es sich ereignete, verhandelt Draper in „Rentfort Nord“ dessen über-archivierte Gehalte. Die Gladbecker Geiselentführung läßt sich insbesondere mit dem von Jacques Derrida vorgeschlagenen Begriff eines „Archives des Virtuellen“ lesen, das innerhalb eines archivierten Ereignisses jenes verwahre, „was als solches nicht wißbar ist“(2). Markus Draper rückt die Inhalte eines solchen gedachten Archives in den Mittelpunkt seiner szenischen Inszenierungen: das Unbewußte, das Verdrängte, das Unsichtbare.

Für „Rentfort-Nord“ spürt Draper jene urbanen Nicht-Orte auf, die sich im Verlauf der Geiseldramas als die markantesten Handlungsräume herausgebildet hatten. In ihrer Profanität stehen diese dem Exzess eines gleichermaßen von Gewalt und lustvoller Neugier bestimmten Vorfalles entgegen, der vom Künstler charakteristisch für die jüngere bundesrepublikanische Geschichte gelesen wird. Markus Draper erinnert durch kulissenhafte Inszenierung, filmische Dramatisierung und Fragmente des Original-Tons auf einer abstrakten Ebene an die Dinge, die sich damals ereignet haben. Dabei ermöglicht er es dem Zuschauer, in einer abstrakten Form in das Geschehen einzutauchen, wobei das Konkrete des Tons auf die signifikante Unbeschriebenheit der Orte trifft. Dieses Vorgehen zielt jedoch nicht auf einen Effekt akribischer Mimesis; es bemüht sich vielmehr um eine eindrückliche Visualisierung jenes Vakuums an Macht und Bedeutung, welches die Vorfälle erst ermöglichte.

Die ins kollektive Erinnern diffundierten Bilder, die den Ausgangspunkt der künstlerischen Recherche bildeten, markierten dabei nicht nur ein kriminalistisches, sondern ebenso ein mediales Phänomen, und kennzeichnen mithin ein nicht zufällig am Beginn des Privatfernsehens sich ereignendes Verbrechen.

 

Utopie und Dystopie des Urbanen

Markus Draper baut die realen Schauplätze der Tat als blasse Kulissen nach und verhandelt darin eine Vielzahl von Aspekten. Zum einen verdeutlicht er die Gesichtslosigkeit einer bis in die Gegenwart hinein existierenden urbanen Realität, aber ebenso die Charakteristika der spezifischen gesellschaftlichen und medialen Verfaßtheit zu jener Zeit. Gleichzeitig führt Draper die an diesen Orten inszenierten urbanen Utopien ad absurdum: die Illusion von Offenheit, Mobilität, Entspannung, Konsum, Unterhaltung und Kommunikation. Das Verbrechen attackierte diese durchweg positiv besetzten Versprechungen modernen urbanen Lebens und deutete sie ins Katastrophische um. Das Ereignis fand statt an zentralen, funktionalistisch geprägten urbanen Knotenpunkten, die vom Künstler aus dem Kontext gelöst und skelettiert werden. Dadurch wird es möglich, die von allen Zeichen befreiten, übrig gebliebenen Kulissen wieder ins Blickfeld zu rücken und sie einer unmittelbaren Wahrnehmung zu öffnen. Markus Draper simuliert für den Betrachter, wie bereits in früheren Arbeiten, vermittels makroskopischer Kameratechnik eine körperlich erfahrbare Position, die es ermöglicht, begleitet von Originaltönen und ausgewählten Gesprächsfragmenten, sich retrospektiv in den historischen Raum zu versetzen. Zugleich bleibt die Erfahrung abstrakt: der Betrachter wird zum Stellvertreter in den Stellvertreter-Räumen von "Rentfort-Nord"; die Utopie kippt ins Dystopische.

 

Die Leere im Zentrum

Die im Modell und den Filmen sichtbar werdende Verschiebung des Blicks von einem eindeutigen Überblick hin zum Fragmentierten und Ambivalenten entspricht einer veränderten Philosophie des Raumes. Markus Drapers Kunst interessiert sich für die Leere im Zentrum, den „Nicht–Ort“, von dem Marc Augé spricht (3). Sie setzt eine zersplitterte geographische, maßgeblich urban geprägte Erfahrung in unmittelbare Beziehung zu jener erratischen Bewegung durch den städtischen Raum, den Täter, Opfer und Medienvertreter in jenem August 1988 vollzogen.

Der gegenwärtige Diskurs zu Raum und Urbanität ist geprägt von einer fragmentierten Wahrnehmung und der zunehmenden Auflösung zusammenhängender urbaner Gebilde, welche sich unmittelbar auf das Leben in ihnen auswirkt. Die Entstehung differenzierter öffentlicher Überwachungs- und Kontrollmechanismen sind eine Folge der Veränderung städtischer Räume. Das Geiseldrama von Gladbeck war ein frühes Aufscheinen jenes Zusammenhangs aus außer Kontrolle geratener öffentlicher Ordnung und fehlender Kontrolle. Es konnte gelesen werden als unwahrscheinlicher Einzelfall lange vor jenem Gefühl universeller Bedrohung, welches die Gegenwart zu prägen scheint. "Rentfort-Nord" nimmt Bezug auf eine Zeit, in der Terrorismus und Gewalt noch als singuläre Phänomene und nicht als strukturelle Probleme einer Gesellschaft wahrgenommen wurden. Dies bedingte eine stärkere Abwesenheit von Kontrollmechanismen, die jedoch spätestens nach den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001 ubiquitär wurden. Eine Situation wie jene im August 1988, in der zwei Einzeltäter innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes die Kontrollmechanismen öffentlicher Sicherheit und medialer Präsenz völlig aus den Fugen geraten lassen, scheint gegenwärtig nahezu unmöglich. Vor allem das ausgedehnte Eindringen und ziellose Besetzen unterschiedlichster Orte im Stadtraum wäre heute wohl so nicht mehr denkbar. "Rentfort-Nord" fragt danach, warum die Ereignisse damals derart eskalieren konnten, hinterfragt aber ebenso die Möglichkeit, mit der Darstellung von Räumen die Verfaßtheit einer Gesellschaft zu reflektieren. Markus Draper setzt die Räume in Bezug zu vorhandenen Erinnerungsbildern und eröffnet damit ein Feld weiterführender Fragekomplexe: Ist es möglich, anhand von modellhaften Konstruktionen über ein konkretes Ereignis nachzudenken? Er stellt das Verhältnis von Tat, Raum und Geschichte zur Diskussion und fragt darin ebenso nach den psychologischen wie nach den städtebaulichen und kriminalistischen Gehalten der sich hier entfaltenden Dynamik.

Die geplante Ausstellung im Zusammenhang des nahenden Abrisses des Gebäudekomplexes in Rentfort markiert eine Zäsur, die die Geschehnisse von Gladbeck im August 1988 noch einmal in Erinnerung ruft. "Rentfort-Nord" will eine Möglichkeit eröffnen, die damaligen Ereignisse mit einem gegenwärtigen Blick neu zu reflektieren. Neben der aktualisierten Reflektion des Geschehenen soll aber nicht zuletzt auch danach gefragt werden, inwiefern sich die damalige terroristische Aggression vom Terror der Gegenwart unterscheidet.

 

Raum, Haus, Neurose

Wie oft bei Markus Draper offenbaren seine modellhaften Arrangements das Neurotische, Verborgene und Gefürchtete einer Gesellschaft. Straßen und Gebäude werden in seinem Werk als "therapeutische Objekte" (Draper) inszeniert, anhand derer sich nicht nur historisch-politische Zusammenhänge, sondern sich auch schwer faßbare psychologisch-emotionale Verfaßtheiten diskutieren lassen. Die szenische, gleichwohl abstrakte Nachstellung der Ereignisse in "Rentfort-Nord" bis hin zu originalen Kamerafahrten und -Schwenks, die in einen entleerten städtischen Raum transponiert werden, brechen die bisher zur Verfügung stehenden, medialen Rezeptions- und Erinnerungsmechanismen auf.

Markus Drapers hybride Raumgebilde sind dabei weder erhaben noch feierlich, sondern lapidar und leer, ebenso nüchtern wie provokativ. Doch eröffnen sie darin eine neuartige Sichtweise, die geeigneter scheint, retrospektiv etwas über das Geschehene zu verstehen als die bildproduzierende mediale Traumamaschine jener Tage es vermochte, die mit den zu Ikonen erstarrten Bildern das Ereignis nachhaltig und langfristig verschleiern sollte. Markus Draper transzendiert die komplexen und konfliktreichen Implikationen des historischen Ereignisses und verdichtet das Geschehene in einer Struktur, die unmittelbar körperlich erlebbar wird. Diese Unmittelbarkeit ermöglicht es, das Geschehene aus der multiplen medialen Codierung und Verunklärung herauszulösen und dessen Strukturen sichtbar zu machen. Die Displays von "Rentfort-Nord" machen die damals wie heute virulente Desorientierung und Entgrenzung als körperliche Erfahrungsmuster im Stadtraum spürbar.

In der Tilgung von Tatsächlichkeit und der Reduktion komplexer urbaner Räume zu Kulissen er-löst Markus Draper das Geschehene aus dem Alltäglichen und stellt es neu zur Diskussion. Er inszeniert die realen Räume als Gußformen im skulpturalen und inszenatorischen Komplex "Rentfort-Nord". In einem Akt paradoxaler Umkehrung gelingt es ihm, mit der Entleerung des Raumes zugleich die komplexen Codes von Erinnerung, Geschichte und gesellschaftlicher Verfaßtheit jener Zeit aufzuschließen und sie für andersartige Lesarten zugänglich zu machen. Installation "Rentfort-Nord" nicht ab am Gegenstand und seiner Deutbarkeit, sondern transponiert beide in einer stringenten Formalisierung.

Düsseldorf im August 2011

 

(1) Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd V. 1, Frankfurt/M, 1982, S. 596S.
(2) Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 129 f.
(3) Marc Augé: Non-Places. Introduction to an Anthropology of Supermodernity“, London, 1995

© die Autorin, der Künstler, Neue Galerie Gladbeck