"Rentfort-Nord" von Markus Draper bezieht sich auf die als "Gladbecker Geiseldrama" bekannt gewordenen Ereignisse im August 1988.

 

1. Bank, 16. August 1988

Auf dem Weg in seine Praxis verspätet sich der Allgemeinmediziner K. (53) um fast 20 Minuten. Als er das Einkaufszentrum in Gladbeck Rentfort-Nord erreicht und an der Filiale der Deutschen Bank vorbei geht, sieht er, wie der Bankkassier A. (35) hinter der Innentür der Schalterhalle kniet und ihm eine Pistole an den Kopf gehalten wird. Um nicht aufzufallen, läuft K. weiter und alarmiert von seiner Praxis aus die Polizei. Der Funkspruch wird an die Beamten des Streifenwagens Herta 13/21 weitergeleitet. Den Vorschriften entsprechend schalten sie das Blaulicht und die Sirene aus, um kein Aufsehen zu erregen. Dennoch können sie an der Rückfront von den Einbrechern sofort gesehen werden.

Die Vorgehensweise der Bankräuber lässt die Polizei darauf schließen, dass es sich bei den Tätern um R. (31) und D. (32) handelt. Mit Pistolen ausgestattet, passten die Bankräuber den Kassierer A. beim Begehen der Bank ab und drangen in den Schalterraum ein. Die Kundenberaterin B. (24) versuchte zu fliehen, wurde aber mit Gewalt zurück gehalten.

Nachdem den Bankräubern der Streifenwagen aufgefallen ist, entscheiden sie sich zur Geiselnahme und nehmen Kontakt mit der Polizei auf, um 300.000 Mark sowie ein Fluchtauto (Typ BMW 735i) zu fordern. Die Polizei geht jedoch nicht auf die Forderungen ein und plant die Bankräuber abzulenken und zu ermüden.

Im Laufe der Zeit werden sowohl die Bankräuber als auch die gefangen gehaltenen Bankangestellten unruhig. Um das Tempo zu forcieren, ruft der Bankkassierer in Eigeninitiative die Nachrichtenredaktion des WDR in Köln und der WAZ in Essen an. Bis zum Abend bleiben die Telefonleitungen offen und werden ausgiebig von der Presse für Interviews mit Bankräubern und Geiseln genutzt. Um 17.31 Uhr kommt die Polizei den Forderungen schließlich nach und schickt einen Polizisten nur mit einer Badehose bekleidet zur Bank. Dieser positioniert nun ca. zehn Stunden nach dem Überfall einen Beutel mit dem geforderten Geld vor der Bank. Um 17.57 Uhr zieht eine der Geiseln, eine Schnur um den Hals geknotet, die Beute in die Bank hinein. Der Kassierer der Bank tritt weiter in Verhandlung mit der Polizei, die erst am späten Abend ein Fluchtauto zur Verfügung stellt.

Um 21.40 Uhr steigen die Bankräuber mit ihren Geiseln in den vor der Tür bereitgestellten, weißen Audi und fahren Richtung Gladbecker Norden davon. Den Polizeibeamten fällt es schwer, die Verfolgung aufzunehmen, da bereits mehrere Journalisten dem Fluchtfahrzeug folgen.

An einer Tankstelle entwenden die Geiselnehmer einem Polizeibeamten die Dienstwaffe und ein Funkgerät. Bevor die Geiselnehmer Gladbeck über die Autobahn verlassen, steigt Frau L., die Lebensgefährtin eines Bankräubers, zu den vier Personen ins Fluchtauto.

 

2. Bushaltestelle, 17. August 1988

Von Gladbeck aus fahren die Geiselnehmer auf die Autobahn Richtung Bremen. Gegen 13.00 Uhr erreicht der PKW Bremer Stadtgebiet. Während D. bei den beiden Bankangestellten im Auto bleibt, laufen R. und L. durch Bremen-Vegesack. Sie kleiden sich neu ein und trinken einen Kaffee. Minutenlang sind die Geiseln unbeaufsichtigt, weil D. in dieser Zeit die Toilette aufsuchen muss und später im Fluchtauto einschläft. Dennoch entscheiden sich die Polizeibeamten nicht einzugreifen, weil sie vermuten, dass die Geiselnahme ohnehin in Kürze ein Ende haben wird. Als R. und L. nach einigen Stunden zurück sind, geht die Fahrt mit den Geiseln weiter.

Gegen 18.20 Uhr erreichen die Geiselnehmer Bremen-Huckelriede. Der Versuch, die Geiseln freizulassen scheitert, da die Bankräuber nicht mehr klar erkennen können, ob sie von Polizei oder Journalisten umzingelt sind. Spontan entscheiden sie sich, einen nahe gelegenen Bus zu kapern. Um ca. 19.00 Uhr betreten sie den Bus der Linie 53 und nehmen ihn unter Waffengewalt in Beschlag. Aus bisher zwei Geiseln werden 32. Von den umstehenden Journalisten winkt Bankräuber R. den Fotografen M. zu sich herüber. Er teilt ihm neue Forderungen mit, die der Fotograf an die Polizei übermitteln soll. Im Anschluss an die übermittelten Forderungen wird dem Fotografen zugesichert Fotos vom Inneren des Busses machen zu dürfen. Auch einem Fernseh-Interview stimmt R. zu, welches etwa 3 1/2 Stunden später im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wird. Journalist M. fungiert weiter als Vermittler, kann aber keinen zuständigen Polizeibeamten telefonisch erreichen. Geiselnehmer R. will nicht länger warten und lässt den Bus gegen 22.44 Uhr abfahren. Bis zu diesem Moment hat sich eine Vielzahl von Journalisten mit ihren Fahrzeugen um die Bushaltestelle herum gesammelt, die nun hinter dem Bus herfahren. Bei der Verfolgung des Busses stirbt ein Polizist während seines Einsatzes auf der A3.

 

3. Raststätte, 17. August 1988

Um ca. 22.46 Uhr erreicht der Bus die Raststätte Grundbergsee, gefolgt von Polizei und Presse. Journalist M. und ein Reporter der Bild-Zeitung stellen sich als Geiseln zur Verfügung, damit die beiden Geiseln aus der Gladbecker Bank im Gegenzug freigelassen werden können.

Als die Freundin von Bankräuber R. die Toilette aufsucht, wird sie von der Polizei festgenommen und in einem Fahrzeug weggefahren. Die Geiselnehmer drohen, die erste Geisel zu erschießen, sollte L. nicht binnen fünf Minuten zurück sein. R. droht eine Geisel nach der nächsten umzubringen, da er nun nichts mehr zu verlieren habe. Szenen aus dem Bus, aufgenommen in Bremen-Huckelriede werden um 22.52 Uhr im Ersten Programm gesendet. Hier ist zu sehen, wie der 14jährige E. seine acht Jahre alte Schwester in den Armen hält und R. die neunjährigen T. mit seiner Waffe bedroht. Nachdem die Einsatzleitung die sofortige Freilassung von L. anordnet, gibt es Verzögerungen, u.a. weil beim Öffnen der Handschellen der Schlüssel abbricht.

Um 23.06 Uhr - L. ist seit nun fast 20 Minuten in den Händen der Polizei - hält D. seine Waffe unter das Kinn von Geisel B.. Er schwenkt rüber zu E., der seine Schwester zu schützen versucht, und schießt ihm in den Kopf. Sekunden später ist L. zurück. Der Reporter M. und sein Kollege von der Bild-Zeitung tragen den leblosen Körper aus dem Bus. Da vergessen worden war, einen Notarztwagen mitzuführen, muss E. mehr als 20 Minuten auf ärztliche Hilfe warten. Um 1.15 Uhr können die Ärzte nur noch den Tod E.´s feststellen.

Es blieb bis heute ungeklärt, wer den Befehl zur Festnahme von Frau L. gegeben hatte.

 

4. Fußgängerzone, 18. August 1988

Nachdem die Geiselnehmer mit dem Bus die Raststätte verlassen haben, fahren sie Richtung Rheine mit Ziel Niederlande. Um 2.20 Uhr passiert der Bus die deutsch-holländische Grenze bei Bad Bentheim, wo die Journalisten von der Polizei aufgehalten werden können, sie finden jedoch schnell einen anderen Weg auf das niederländische Gelände. Ungefähr fünf Kilometer hinter der Grenze hält der Bus in einem dunklen Waldstück an der Landstraße N1. Es ist 3.00 Uhr als die Verhandlungen mit der niederländischen Polizei beginnen.

Als erstes müssen die Geiselnehmer die Kinder freilassen. Im Morgengrauen  stellt die niederländische Polizei das von den Geiselnehmern geforderte, neue Fluchtfahrzeug (einen BMW der 70er Reihe) bereit. Um ca. 6.30 Uhr verlässt eine Frau den Linienbus der Bremer Straßenbahn AG. Alle Geiseln mit Ausnahme von Frau B. werden nun freigelassen. Weil aber ihre Freundin V. nicht ertragen kann, sie alleine mit den Geiselnehmern zu lassen, stellt sie sich auch als Geisel zu Verfügung. Der BMW mit den fünf Insassen fährt gegen 7 Uhr zurück nach Deutschland Richtung NRW.

Nach einem kurzen Stopp an einer Apotheke in Wuppertal kommt der BMW kurz vor 11 Uhr am nächsten Morgen in der Kölner Innenstadt an, angeblich mit der Absicht, den Kölner Dom zu besuchen, denn beide Geiselnehmer waren noch nie in Köln. Die Ortsunkundigen verfahren sich aber und bleiben schließlich vor den Pollern einer Fußgängerzone in der Breiten Strasse stehen, direkt zwischen einem Gebäude des WDR und dem Verlagshaus des Kölner Express. Die Geiselnehmer beschliessen eine Kaffeepause, während das Fluchtfahrzeug von den umliegend arbeitenden Journalisten bemerkt wird.

Kurze Zeit später ist der BMW dicht umringt von Journalisten und Schaulustigen. Die Journalisten führen Interviews mit allen Insassen des Fluchtfahrzeugs, während Geiselnehmer D. der Geisel B. unentwegt die Pistole an den Hals drückt. Die Polizei ist mit Beamten in Zivil vor Ort, entscheidet sich aber gegen einen Zugriff. Um 12.40 Uhr, nach anderthalb Stunden dichter Belagerung und Interviews verliert Geiselnehmer R. die Nerven und versucht sich mit der Pistole ein Weg zwischen der Menschenmenge zu bahnen. Während ein Journalist die Poller der Fussgängerzone öffnet, steigt ein anderer Journalist als sechster Insasse in das Fluchtauto und lotst die Geiselnehmer aus der Kölner Innenstadt heraus, auf die Autobahn Richtung Frankfurt. Am Autobahnrastplatz Siegburg verlässt der Journalist das Fahrzeug wieder.

 

5. Autobahn, 18. August 1988

Der BMW fährt weiter auf der A3 Richtung Frankfurt. In der Ortschaft Aegidienberg im Siebengebirge, etwa zwei Kilometer hinter der Abfahrt Bad Honnef bringt R. den BMW auf dem Standstreifen zum Stehen. Als 13.43 Uhr  die Geiselnehmer im Begriff sind wieder weiterzufahren, rammt ein gepanzerter Mercedes des SEK das Fluchtfahrzeug. Für diesen Fall war das holländische Fluchtfahrzeug so präperiert, das per Fernbedienung der Motor des Fluchtfahrzeugs ausgeschaltet werden konnte. Diese Fernbedienung war aber vergessen worden, vom SEK mitzuführen. Daher gestaltet sich der gezielte Aufprall des Rammfahrzeugs auf das Fluchtauto als nicht optimal.

Das Spezialkommando setzt Blendgranaten ein. Diese hindern aber nicht nur die Geiselnehmer, sondern auch die Polizei an einer freien Sicht. Sofort kommt es zu einem heftigen Schusswechsel. Nach Angaben der Polizei sollen die Geiselnehmer das Feuer eröffnet haben. Die Polizei gibt 62 Schüsse auf das Fluchtfahrzeug ab. Der Geisel V. gelingt es, sich an der Beifahrerseite aus dem BMW zu retten. Währenddessen erleidet Geiselnehmer D. eine Synkope. Die Geisel B. stirbt auf der A3 an Kilometer 37,5 durch eine Kugel aus R.´s Waffe. Bis heute ist aber unklar, ob der Geiselnehmer gezielt auf die Geisel geschossen hatte. Alle anderen Insassen des Fluchtautos überleben.

Beide Geiselnehmer wurden am 22. März 1991 vom Landgericht Essen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt und sind bis heute inhaftiert. Nach dem Ende des Geiseldramas entfachte eine intensive öffentliche Debatte über Verantwortung und Grenzen des Journalismus sowie über das Verhalten der Polizei während des Geiseldramas. Aus Konsequenz zu den Diskussionen zur Taktik der Bremer Polizei tritt Bremens Innensenator am 20. November 1988 zurück

Text: Nadia Jezyschek

 

Quellen: Parlamentarischer Untersuchungsbericht des Landtags NRW, Der Spiegel, Stadtarchiv Gladbeck, Staatsarchiv Bremen